Liebeserklärung an Camberg
Liebeserklärung an Camberg
von Rudolf Naujok, ca. 1964
Wie man in einen Ort hineinwächst, ist ein unbewusstes Geheimnis: Man spürt es selber nicht. Es geschieht wohl tröpfchenweise. Und dann gibt es Schübe, in denen man beglückt erkennt, dass sich eine innere Bindung entwickelt hat, für die man noch keine Worte findet. Es war an einem dunklen Dezemberabend, als ich zum ersten Mal nach Camberg fuhr. Die Fenster des Zugabteils waren beschlagen. Aber ich sah die hohen, steilen Hänge des Hochtaunus, schweigend und dunkel, sehr fremd für mich, der an die Weite Ostpreußens gewöhnt war, an den unendlichen Himmel und die ziehenden Wolken. Wie kann man in dieser Enge leben, wo nur Ausschnitte des Firmaments zu sehen sind. Und was wächst hier überhaupt auf den Feldern? In der Zeit des Hungerns, als diese Reise stattfand, war die Frage nach dem, was auf den Äckern gedeiht, nicht so abwegig wie heute. Dann kam der andere Morgen. Ich sah vom Fenster aus ein weites wogendes Tal, ja ein gewaltiges Tal. Ein Gefühl der Beglückung umfing mich. Es gab hier nichts, was mich abstieß. Die Sonne schien. Der ganze Ort mit seinen roten Ziegel- oder grauen Schieferdächern, mit seinen alten Mauern, Wachtürmen, Kirchen und Straßen lag vor mir, fast unter mir. Es sah alles mittelalterlich und ehrwürdig aus. Ich konnte lange durch Straßen und Gassen laufen und von allen Ecken immer neue Ausblicke auf das Tal und auf die Hügelreihen zu beiden Seiten des Städtchens gewinnen. Der Kurpark und die Promenade mit dem Blick auf die geheimnisvolle Kapelle in der Ferne, mit dem Rauschen der alten Bäume im winterlichen Wind, weckten alsbald das Gefühl in mir: Hier ist es schön! Der Sommer unterstrich das erst richtig, wenn er seine grünen Matten und Halden aufwärts ausrollte, voller Apfelbäume, Schlehen und Weißdorn, und die verträumten Schluchten, Täler, Quellen und Haine aufschloss. Der Emsbach sprudelte blau und rastlos durch den Goldenen Grund, an Pappelhainen vorbei, durch Gräserwiesen. Die weiten Felder waren schwer vom Weizen, besonders, wenn der Spätsommer die Ähren gelb färbte. Wie gemächlich die Ochsengespanne die schmalen Feldwege aufwärts zogen. Alte Zeit, alter Ort, alte Erde, bröckelnd und steinig, aus Jahrmillionen altem Schiefer herausgewaschen, steinig und geröllig, ganz anders, als der dunkle Moorboden meiner östlichen Heimat. Hier und da ein wild aufragender Felsen, mit dem der Taunus noch einmal seine Kraft zeigte, ein Finger der Urzeit als Mahnung, dass sich nicht alles einebnen und in Felder umwandeln lässt. Dies zu sehen und zu erkennen, ist ganz beruhigend. Einer der ersten Menschen in Camberg, die sich meiner annahmen, war der bekannte Heimatforscher Friedrich Heil. Er war damals schon gebrechlich und ging ziemlich schwer. Doch er ließ es sich nicht nehmen, mir den historischen Kern des Städtchens zu zeigen: den Amthof, die Zehntscheune, den Obertorturm, die Hohenfeldkapelle, den malerischen Marktplatz mit dem reich verzierten Sadonyhaus, die alten Türme und die Stadtmauer. Was er davon zu erzählen wusste, hauchte den Gebäuden unmittelbar Leben ein. Die alten Steine bekamen jenen Glanz, der ihnen nur ein Mensch geben kann, der sie liebt und mit Ehrfurcht vor den alten Geschlechtern und ihrer Geschichte steht. Überall konnte er mich nicht hinführen. Immerhin wies er mit seinem Stock von einem Hügel die Richtung zu einem Galgenberg sowie zur Kreuzkapelle, über den Weg der Sieben Fußfälle jenseits des Friedhofs. Nach einem Blick in alte Keller und unterirdische Verließe der Stadtmauer war ich schließlich froh, dass mir das Zeitalter der Hexen, Übeltäter und Halseisen nur in literarischer Form geboten wurde statt als raue Wirklichkeit. Im Freilichttheater sah ich die Aufführung das Theaterstücks „Gerhard Langenbach, der Schultheiß von Camberg“, ein mittelalterliches Heimatspiel, das zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges spielt. Ich hatte öfters die Zoppoter Waldoper besucht und auch Aufführungen im Heidelberger Schloss gesehen. Aber hier im historischen Stadtkern, an einem Juliabend von den Nachkommen der mittelalterlichen Camberger unter den alten Bäumen gespielt, wirkte die Aufführung besonders authentisch und eindrucksvoll.Marktplatz Camberg mit Obertor und Sadonyhaus um 1948
© Stadtarchiv
Rudolf Naujok mit seiner Frau Helene im Kurpark von Camberg
© Familie Naujok
Kornernte vor der Kreuzkapelle © Stadtarchiv Bad Camberg
„Und was wächst hier überhaupt auf den Feldern?“